Auszug
aus „Senor Nice“, Kapitel „Brasilien“:
Ich ging nach unten, in das dunkle Untergeschoss eines West End Tanzclubs
in Soho. Russinnen wirbelten um Stangen, Lichter blitzten auf und Musik
plärrte laut aus den Boxen. Schemenhaft erkannte ich die Silhouetten
von Dave Courtney, Bernie Davies, Tony Lam-Brianou, Charlie Breaker und
anderer Mitglieder der „Firma“, die mit Mitgliedern der Alabama
3 ins Gespräch vertieft an einem Tisch saßen. Langsam bewegte
ich mich auf sie zu.
Jemand tippte mir auf die Schulter.
„Danke, dass du hergekommen bist, Howard. Habe dich eine ganze Weile
nicht gesehen.“
Es war Bruce Reynolds, der führende Kopf des großen Eisenbahnraubes
und der vornehmste von allen, die außerhalb des Gesetzes leben.
Ich traf Bruce zum ersten Mal Mitte der Achtziger, während der Schauspieler
Larry Lamb ihn in dem Film „Buster“ spielte. Larry war mit
meiner ersten Frau, Ilze, befreundet und hatte mich mit Bruce bekannt
gemacht. Zehn Jahre später traf ich ihn noch mal durch Nick, einen
talentierten Bildhauer und Musiker, der mit Alabama 3 spielte und mit
dem ich schon bei verschiedenen Veranstaltungen und Vorträgen zusammengearbeitet
hatte. Es war schon ein oder zwei Jahre her, dass ich Bruce zuletzt getroffen
hatte. Es war in den Farrindon Tardis Studios, wo wir Auszüge unserer
jeweiligen Biographien vorgelesen hatten. Er schien besorgt. Ich erinnere
mich an unsere Unterhaltung.
„Was ist los, Bruce? Du scheinst beunruhigt zu sein.“
„Es ist keine wirkliche Besorgnis. Ich bin nur ein wenig beunruhigt
wegen Ronnie. Du weißt ja, dass ich, mein Sohn Nick, Dave Courtney
und Roy Shaw in Rio zu seinem siebzigsten Geburtstag waren.“
„Ja, Nick hat mir davon erzählt. War es nicht auch eine Geburtstagsfeier
für den Eisenbahnraub?“
„Das stimmt, es war der sechsunddreißigste Jahrestag. Wir
begingen den Raub 1963, an Ronnies Geburtstag. Wir amüsieren uns
immer noch darüber. Aber Ronnie ist krank, ernsthaft krank. Und er
ist völlig pleite.“
Ronnie Biggs floh vor einer dreißigjährigen Haftstrafe in einem
britischen Gefängnis und kam 1970 nach Brasilien. Vier Jahre später
wurde er von Jack Slipper vom Scotland Yard in Rio de Janeiro verhaftet.
Biggs konnte den Ausweisungsbeschluss mit der Begründung verhindern,
er habe ein Kind namens Michael mit seiner brasilianischen Freundin Raimunda.
Kurze Zeit später nahm er mit den Sex Pistols den Song „No
One is Innocent“ auf. 1981 wurde er von einer Bande Kopfgeldjäger
in Rio entführt und per Schiff nach Barbados geschmuggelt. Das oberste
Gericht in Barbados entschied jedoch, dass die Bestimmungen für eine
Auslieferung nach England nicht korrekt beachtet wurden und erlaubte Biggs,
nach Rio zurückzukehren. Dort lebte er in einem baufälligen
Apartment in Santa Teresa, einem Stadtteil voller Kleinkrimineller in
den Außenbezirken von Rio. Biggs verdiente sein Geld, indem er T-Shirts
und Fotografien von sich verkaufte. Manchmal auch, indem er Touristen
Geschichten seiner Flucht erzählte. 1997 wies der oberste brasilianische
Gerichtshof eine erneute Auslieferungsanfrage der britischen Behörden
zurück. Während der nächsten zwei Jahre erlitt er eine
Serie von Schlaganfällen, die ihn halb gelähmt und unfähig
zu sprechen zurückließen.
„Weißt du, was er mir damals gesagt hat, Howard? ,Du hast
mich hier reingeholt, Bruce. Kannst du mich auch wieder rausholen? Ich
habe nur noch einen einzigen Wunsch im Leben, und der ist ein Glas Bier
in einer Kneipe in Margate zu trinken.´“
„Was erwartet er jetzt von dir?“
„Ich soll ihm helfen, wieder in dieses Land zu kommen.“
„Was? Er will einen Strand in Brasilien für eine Zelle im Knast
von Wandsworth eintauschen? Ich hoffe, du hast ihn vom Gegenteil überzeugt.“
„Ronnie glaubt, dass sie ihn nach einer Weile aus Mitleid wieder
rauslassen und dass er während seiner Gefangenschaft eine vernünftige
medizinische Versorgung erhält.“
„Seit wann sind die zu Mitleid fähig, Bruce? Die Kerle in Wandsworth
würden es lieben, Ronnie Biggs sterben zu sehen, während er
einen Postsack zusammen näht und ich glaube der Begriff ,vernünftig´
beschreibt in keiner Weise die medizinische Versorgung, die ,Ihre königliche
Hoheit´ ihren Gefangenen zukommen lässt, es sei denn, es hat
sich seit meiner Zeit dort etwas grundlegend geändert. Ich würde
es an seiner Stelle mal mit den brasilianischen Ärzten versuchen.“
„Es würde ein größeres Vermögen kosten, als
wir alle zusammen aufbringen könnten.“
„Kann nicht irgendeine Zeitung die Summe für einen Exklusivbericht
bereitstellen?“
„Das habe ich versucht. Die Medien sind nur bereit, über Dinge
zu schreiben, die für ihn nachteilig sind, wie zum Beispiel all die
Schlaganfälle, die er hatte. Zeitungen zahlen nur, wenn er sich stellt.
Im übrigen ist es seine Wahl. Wenn es das ist, was er tun will, dann
muss ich ihm helfen. Niemand sollte unter fremdem Himmel sterben und in
fremder Erde begraben sein. Ich war es, der ihn letztendlich dorthin gebracht
hat und ich werde es sein, der ihn zurückholt. So oft wie möglich
werde ich ihn besuchen, ihm etwas Geld zukommen lassen und ich werde alles
tun, um seine vorzeitige Entlassung zu erwirken.“
Einige Monate später schob Nick Reynolds einen Rollstuhl in die Abflughalle
des Flughafens von Rio de Janeiro. Ronnie Biggs kehrte heim. Ein Privatjet
mit vierzehn Sitzplätzen, gechartert von der Zeitung „The Sun“,
wartete auf ihn. Biggs wurde in dem Moment verhaftet, als seine Füße
britischen Boden betraten. Freunde und Bekannte organisierten zahlreiche
Spendensammlungen, um die Anwaltskosten für eine vorzeitige Entlassung
aufbringen zu können. Dies war die erste Veranstaltung, an der ich
teilnehmen konnte.
„Bruce, wie geht’s denn so?“
„Gut, aber Ronnies Zustand wird immer schlimmer, seine Familie steht
Höllenqualen aus. Es ist sehr schwer, Geld für ihn zu sammeln.
Außer uns ist offenbar niemand interessiert. Die meisten Leute wollen
wohl, dass er den Rest seines Lebens im Knast verbringt.“
Dave Courtney gesellte sich zu uns.
„Da liegst du nicht falsch, Bruce. Die Mistkerle faseln dauernd
etwas über den Schutz der Gesellschaft und ähnlichen Unsinn.
Ich meine, er wird wohl kaum noch mal einen Zug ausrauben, oder? Zuerst
mal; er kann weder laufen noch sprechen. Welche Art von verlauster Gesellschaft
muss sich vor Krüppeln, die in den letzten Zügen liegen, beschützen?
Dieser ganze Scheißverein besteht nur aus Sadisten. Dann gibt es
noch die Spinner, die vom Mittel der Abschreckung sprechen. Es ist verdammt
zu spät für Ronnie, noch als Abschreckung zu dienen. Er hatte
ein sehr schönes Leben. Ronnie ist ein lebendes Werbeplakat für
eine kriminelle Karriere. Aber die Kriecher, die mir wirklich stinken,
sind die, die immer noch über den Lokführer jammern. Wissen
die nicht, was mit Boxern passiert? Was wollte der Arsch damit beweisen,
als er Eisenbahnräuber von ihrer ehrlichen Arbeit abhielt? Verdammter
Freiheitskämpfer.“
„Nun ja, sie haben ihn immerhin von seiner Arbeit als Zugführer
abgehalten“, sagte ich, um Dave zu beruhigen. Bruce lachte. Dave
versuchte nicht zu lachen.
„Da siehst du, wer von uns der Komiker ist. Geht’s dir gut
Howard? Ich wollte dich nicht ignorieren. Habe dich seit dem Blödsinn
in Teneriffa nicht mehr gesehen. Wie auch immer, wenn Ronnie ein ehemaliger
Terrorist gewesen wäre, dann wäre er schon lange zu Hause ...“
Dave Courtney und Tony Lambrianou waren zwei der öffentlich bekanntesten
Mitglieder der „Firma“, einer Organisation, die in den frühen
Sechzigern von Ronnie Kray gegründet wurde. Sie hatten meine erste
Mr. Nice-Live-Show im Sheperd’s Bush Empire 1997 gesehen. Trotz
der strikten Sicherheitsmaßnahmen hatten sie offenbar keine Schwierigkeiten
gehabt, Zugang zu der hinter der Bühne stattfindenden Party nach
der Show zu finden. Dave fing mich nach der Show ab, gab mir einen dicken
Kuss und erzählte mir, dass er auch darüber nachdachte, die
Karriere eines „Stand up comedian“ einzuschlagen und war gekommen,
sich ein wenig Inspiration der Marke „wenn der’s kann, kann
ich’s auch“ zu holen. Wir redeten eine Weile und ich konnte
nichts anderes tun, als die ganze Zeit vor Lachen zu brüllen. Er
ist saulustig und einer der talentiertesten Geschichtenerzähler des
Landes. An diesem Abend freundeten wir uns an und sind bis heute die besten
Freunde geblieben. Nicht lange danach fragte Dave mich, ob ich mit ihm
in einer Doppelvorstellung bei einer Veranstaltung in Teneriffa auftreten
wollte. Ich stimmte sofort zu. Das Publikum bestand fast ausnahmslos aus
emigrierten Briten, und sie liebten die Show. Aber anscheinend war während
der zweiten Hälfte eine Messerstecherei ausgebrochen. Nach der Show
gingen Dave mit seiner bemerkenswerten Gefolgschaft, mein Manager Giles
Cooper und ich zur Bar, um Autogramme zu geben, uns gegenseitig auf die
Schulter zu klopfen und uns zu betrinken. Alles schien friedlich, bis
plötzlich eine Gruppe von zwanzig Männern arabischer und spanischer
Herkunft, mit Baseballschlägern bewaffnet hereinstürmten. Die
Bar explodierte. Giles und ich tauchten ab und suchten Zuflucht in unseren
Hotelzimmern.
„Um was ging es da eigentlich in Teneriffa, Dave?“
„So etwas passiert dauernd, Howard. Es gibt immer eine Kluft zwischen
uns und den libanesischen Jungs, vor allem wenn ich da bin. Habe es nie
so ganz verstanden. Ein Glück, dass anscheinend niemand verletzt
wurde.“
„Ich dachte, jemand wurde erstochen?“
„Das war während der Show, nicht an der Bar. Hatte nichts mit
uns zu tun. Irgendein privater, häuslicher Streit, soviel ich weiß.
Wie auch immer, das nächste Mal tun wir zwei uns mal zusammen, dann
bekommst du den Schlagring und ich rauch den Joint.“
Bernie Davis kam zu uns.
„Alles klar, Alterchen? Kommst du nächsten Monat auch nach
Glastonbury? Sie haben ein tolles Veranstaltungsprogramm: Rod Steward,
Coldplay und natürlich unsere Kumpel aus den walisischen Tälern,
Stereophonics und Alabama Three.“
„Nicht in diesem Jahr, Bernie. Komischerweise bin ich weg nach Brasilien,
um dort ein paar Nachforschungen über die Waliser zu betreiben.“
„Der alte Henry Morgan war auch schon mal da, nicht wahr?“
„Glaub’ ich nicht, Bernie, aber ich prüfe es mal nach.
Seit Panama gönne ich Henry Morgan eine Pause. Der Grund meiner Reise
nach Brasilien ist, dass ich herausfand, dass die Waliser dort eine Kolonie
gegründet haben.“
„Ich wusste nicht, dass Patagonien in Brasilien liegt.“
„Da hast du Recht. Es liegt in Argentinien. Kennst du denn Patagonien?“
„Klar, Alterchen. Meine Vorfahren väterlicherseits waren offenbar
die Ersten dort unten und ich habe schon darüber nachgedacht, auch
mal hinzufahren, um ein paar reiche Verwandte zu finden.“
„Irgendwann werde ich das sicher auch tun. Aus eben diesen Gründen.
Wir könnten zusammen fahren. Lass uns mal darüber reden.“
„Entschuldigen Sie die Unterbrechung“, sagte eine leise Stimme,
„hörte ich richtig, dass Sie nach Brasilien fahren? Mein Name
ist Jim Shrein und ich bin ein Freund von Nick Reynolds. Und das ist Michael
Biggs, Ronnies Sohn.“
Ich schüttelte beiden die Hand und sprach Michael mein Beileid aus.
Jim hatte ein warmes lächelndes Gesicht und einen Hauch mittelöstlicher
Herkunft. Michael hatte auch ein freundliches Gesicht, sah aber sehr besorgt
aus.
„Wenn ihr dorthin geht“, fuhr Jim fort, „müsst
ihr mich unbedingt besuchen kommen. Ich lebe in Rio und ich verspreche
euch, wir werden eine tolle Zeit haben.“
Auszug aus „Senor Nice“,
Kapitel „Am Boden“
Ich flog vom Flughafen Leeds/Bradford nach Barcelona und nahm ein Taxi
zu einem Café nah bei den Ramblas. Wie in spanischen Cafés
üblich, war der Fernseher auf volle Lautstärke gestellt. Ich
war zu früh und Scott war noch nicht da. Ich bestellte ein Bier.
Der Kellner ahnte, dass ich Brite war und fragte, ob ich das Fußballspiel
im Fernsehen schauen wollte: Barcelona gegen Manchester United sollte
in zehn Minuten beginnen. Ich sagte, ich wollte und er brachte mir ein
paar tapas. Ich hatte kein Fußballspiel mehr gesehen, seit ich vor
fünf Jahren als Korrespondent für den Evening Standard tätig
war. Scott kam erst zwei Stunden später und bis dahin hatte Barcelona
längst das Match gewonnen.
„Entschuldige, dass ich zu spät komme, Kumpel. Bin in diesem
Mist hängen geblieben“, sagte Scott und deutete auf den Fernseher.
„Die Stadt ist förmlich blockiert mit Autos und jubelnden,
schreienden Menschen. Ich denke, Barcelona hat gewonnen.“
„Sie haben brillant gespielt, Scott. Sie haben den Sieg verdient.
Es war ein gutes Spiel.“
„Ich dachte ihr Waliser seid, wie wir Australier, nur an Rugby interessiert.“
„Meintest du, wir sind nur beim Rugby gut?“, fragte ich.
„Ist doch das Gleiche, oder?“
„Ich denke ja. Aber Wales wird in letzter Zeit immer besser im Fußball.
Sie haben einige wirklich gute Spieler. Ryan Giggs spielte heute Abend.
Er war der beste Spieler in der Partie.“
„Mir scheint, so viele Tore hat er nicht geschossen“, lästerte
Scott.
Ich wechselte das Thema.
„Wie ist denn im Moment die Lage in der Schweiz?“
„Nicht gut, Kumpel, gar nicht gut.“
„Wie kommt’s?“
Scott erklärte, dass in den letzten paar Wochen die Behörden
im Tessin Dutzende von Cannabis-Geschäften gestürmt und geschlossen
hatten, davon auch einige die ich besucht hatte, als ich das letzte Mal
bei ihm in Chiasso war. Dieser Strategiewechsel der Behörden entstand
durch die letzten Kommunalwahlen, bei denen die siegreiche Partei in ihrer
Wahlkampagne die Schließung aller Cannabis-Shops im Tessin zum Thema
gemacht hatte.
„Ich dachte, der oberste Gerichtshof der Schweiz hätte entschieden,
dass es legal ist, Cannabis anzupflanzen. Wie können sie die Leute
jetzt dafür hochgehen lassen, dass sie lediglich die Ausrüstung
dazu verkaufen?“, fragte ich.
„Sie haben so entschieden, aber die Gesetze in der Schweiz sind
seltsam, Kumpel, sehr seltsam. Jedes Urteil des Gerichtshofes ist genau
das, ein Urteil hinsichtlich eines einzigen Falles. Ein Urteil des höchsten
Schweizer Gerichtes ändert oder schafft kein Gesetz; es ist lediglich
eine den Umständen entsprechende Interpretation.“
„Und was heißt das?“
„Verdammt, wer soll das wissen? Aber offensichtlich bedeutet es,
dass die Hanfsamenläden hochgenommen werden können.“
„Wenn ich es mir recht überlege, ist das nicht verwunderlich,
wenn der Hanfsamenladen in Chiasso nur ein Beispiel für viele war.
Sie haben dort öffentlich und offensichtlich Dope verkauft. Aber
warum spielt es überhaupt eine Rolle? Ich glaube nicht, dass die
Mr. Nice Samenbank oder Gene Bank Technology irgendwelche Hanfläden
besitzt.“
„Nein, das tun sie nicht. Aber es ist ein erster kleiner Anfang.
Die Behörden des Tessins werden sich nicht damit begnügen, nur
ein paar Hanfläden zu schließen. Unternehmen, die Samen oder
andere Cannabisprodukte herstellen, werden die nächsten sein, jede
Wette. Ich will raus, bevor das passiert. Jeder Knochen in meinem Leib
fühlt es kommen. Spanien ist der Ort, wo wir wieder etwas aufbauen
können. Es ist hier nicht illegal, Hanfsamen zu besitzen oder anzubauen.
Stimmst du mir zu?“
„Ja, aber das spanische Gesetz ist auch ein wenig seltsam. Ich weiß
das, weil ich darunter leiden musste, als ich 1989 fälschlicherweise
nach Amerika ausgeliefert wurde. Es ist so ziemlich alles legal, was den
Anbau von Hanf betrifft, aber wenn die öffentliche Ordnung beeinträchtigt
oder bedroht ist, können dich die Behörden allein dafür
hochgehen lassen.“
„Was heißt denn öffentliche Ordnung?“, fragte Scott.
„Soweit ich weiß alles, was die spanischen Bullen darunter
verstehen wollen. Aber ich vermute, wenn die Samenproduktion ohne viel
Aufhebens und ohne dass zu viele Leute es wissen betrieben wird, kann
das die öffentliche Ordnung kaum betreffen.“
„Genau so wollte ich es ohnehin aufziehen und ich habe auch schon
einen passenden Platz gefunden, den man mieten kann. Ich dachte nur, ich
erzähl es dir zuerst mal. Ich gebe den Jungs in Lugano jetzt Bescheid,
dass sie die elterlichen Pflanzen, die ich brauche, hierunter bringen
sollen. Kein Drama.“
Scott ging nach draußen, um zu telefonieren. Nach zehn Minuten kam
er, blass und zitternd zurück. Jetzt kamen die schlechten Nachrichten.
„Nun, Kumpel. Jetzt dampft die Kacke. Die Schweizer Polizei hat
gerade Gene Bank Technology hochgehen lassen, inklusive der gesamten Ausrüstung
und allem Dope, das sie finden konnten. Sie haben hunderttausende Pflanzen
zerstört. Mehr als hundert Leute sind verhaftet worden, einschließlich
Tischler, Anwälte, Gärtner und Floristen. Es passierte heute
Morgen. Ich sagte ja, dass ich es kommen sehe.“
„Mein Gott! Was zum Teufel geht hier ab? Wie kann, was gestern noch
legal war, heute schon illegal sein, ohne eine Änderung der Gesetze.
Vor kurzem habe ich noch gelesen, dass eine Kommission des Schweizer Parlaments
die Entkriminalisierung von Cannabis debattiert und der Senat diesen Antrag
unterstützt. Was brachte sie zu dieser Kehrtwendung?“
„Druck von außen, ist doch offensichtlich“, antwortete
Scott.
„Von den verdammten Amis?“
„Diesmal nicht, Kumpel. Irgendwo ganz nah an der Schweiz, nebenan,
um genau zu sein.“
„Du meinst Berlusconi und seine Faschistentruppe?“
„Ganz sicher. Du hättest wahrscheinlich an die fünfzig
Kilo in diesem Hanfladen in Chiasso kaufen können. Massenweise Italiener
kommen nach Lugano, Chiasso und in andere Teile des Tessins, um unter
anderem dort zu arbeiten. Viele von ihnen rauchen Marihuana, das in der
Schweiz billiger ist als in Italien. Sie haben nicht lange gebraucht um
festzustellen, dass sie gutes Geld verdienen können, wenn sie den
Stoff nach Italien schmuggeln. Sie bedienten sich jeder vorstellbaren
Methode; zum Beispiel zu Fuß über die grüne Grenze oder
über die alten Schmugglerpfade, die im Zweiten Weltkrieg benutzt
wurden. Die italienischen Bullen fanden heraus, dass das ganze Zeug, das
sie in Mailand und sonst überall konfiszierten, in der Schweiz angepflanzt
worden war. Die Hanfläden verteilten sogar ihre Flugblätter
in italienischen Clubs. Berlusconi bekam irgendwie seine Nase dran und
ging mit eiserner Faust dagegen vor.“
Es machte Sinn. Die Schweiz ist nicht unabhängig und neutral, weil
sie von anderen Ländern einschüchtert wird: Das Land bewahrt
seine privilegierte Position, indem es sie alle mit einbezieht.
„Was es mir wirklich angetan hat, ist folgendes Schweizer Gesetz:
Das Kultivieren von Marihuana ist nicht illegal, es sei denn, man beabsichtigt
,Narkotika zu extrahieren’. Ich habe keine ,Narkotika extrahiert’“,
sagte Scott.
„Aber wie kannst du beweisen, dass du keine ,Narkotika extrahieren’
wolltest?“
„Müssen sie nicht beweisen, dass ich ,Narkotika extrahiert’
habe?“
„Du meinst, du bist unschuldig, bis deine Schuld bewiesen ist? Darauf
würde ich mich nicht verlassen, besonders nicht hier in Europa. Der
Napoleonische Code herrscht hier über die Rechtsprechung, was bedeutet,
dass der Angeklagte die Beweislast seiner Unschuld trägt. Obwohl
ich glaube, wenn du jenseits aller berechtigten Zweifel beweisen kannst,
dass du Cannabis nur zum Zweck legaler Aktivitäten angebaut hast
und einen Vertrag für die Hanfbierproduktion vorweisen kannst, keine
Probleme entstehen würden.“
„Es gibt Berge von solchen Verträgen. Ich habe wirklich keine
Narkotika extrahiert“, protestierte Scott.
„Ich weiß. Du hast genau das Gegenteil getan. Du hast all
die nicht narkotischen Teilchen gesammelt, um sie den Yankees zu schicken,
damit sie Parfum daraus machen. Vielleicht hast du damit Gesetze der Schweizer
gebrochen.“
„Und wie das?“
„Weil die einzige Möglichkeit, an die nicht narkotischen Teilchen
zu kommen, darin bestand, die narkotischen Teilchen zu extrahieren, was
technisch gesehen gegen das Schweizer Gesetz ist, wie du gerade schon
sagtest.“
Scott schaute mich an, als ob ich verrückt sei. Ich schaute zurück,
als ob ich es wäre.
„Wie auch immer, Scott, all das THC aus sechs Tonnen Gras zu entnehmen,
nur um die Yankees zufrieden zu stellen, war klar gegen eine Art höherer
Ethik, wenn nicht sogar das Gesetz. Als du mir das erzähltest, wusste
ich, dass es schlechtes Karma auslösen wird. Shiva wäre nicht
erfreut gewesen.“
„Lass uns eine rauchen“, sagte Scott.
Als wir das Café verließen, war es bereits Nacht. Scott drehte
einen starken Joint, den wir, während wir eine Stunde durch das Labyrinth
der Ramblas spazierten, in Ruhe rauchten.
„Ich dachte gerade über etwas nach, Kumpel. Sie haben jeden
verknackt, der mit Mr. Nice Seedbank verbunden war, außer mir, dem
Züchter, und dir, Mr. Nice persönlich. Warum glaubst du, ist
das so?“
„Wahrscheinlich, weil wir an diesem Morgen nicht in der Schweiz
waren. Ich glaube nicht, dass einer von uns sobald wieder dorthin will.“
„Aber ich habe kein verdammtes Gesetz gebrochen.“
„Wenn sie aber glauben, dass es so ist oder denken, sie können
dich einfach so kriegen, dann werden sie es trotzdem tun. Glaub mir.“
Scott schaute traurig aus der Wäsche. Wir gingen zurück zum
Hotel und verabredeten uns zum Frühstück um 9.30 Uhr. Ich wachte
um 9.00 Uhr auf. Auf dem Boden lag eine Nachricht.
„Lieber Howard, ich geh zurück nach Campione d’Italia.
Ich habe nichts zu befürchten, weil ich gegen kein Gesetz verstoßen
habe. Und ich habe Sara versprochen, mit ihr schwimmen zu gehen. Es ist
7.00 Uhr und ich will dich nicht wecken. Außerdem würdest du
versuchen, mich zu überreden, nicht zurückzufahren. Aber ich
weiß, dass es nicht anders geht. Bin in einer Woche zurück
in Barcelona. Hoffe dich dann zu sehen. Liebe Grüße, Scott.“
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Thema Howard Marks werden auf dieser Homepage veröffentlicht!!************
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